Interview: Warum Bürgerräte funktionieren

Mensch vor Laptop mit Bürgerrat
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Der Bürgerrat „Deutschlands Rolle in der Welt“ endete am 20. Februar nach insgesamt zehn digitalen Sitzungen mit 160 Bürger:innen. Für uns heißt es nun: Ergebnisse auswerten, verdichten und für die Übergabe an den Bundestag vorbereiten. Denn schon in wenigen Wochen, am 19. März, findet die Übergabeveranstaltung mit Wolfgang Schäuble statt.


Eine gute Zeit für uns, Fazit zu ziehen: Aus dem Bürgerrat „Deutschlands Rolle in der Welt“, aus dem Prozess und aus dem Format Bürgerrat. Unser Gesprächspartner: Jacob Birkenhäger. Er ist ifok-Projektleiter des aktuellen Bürgerrates und begleitete bereits den Bürgerrat „Demokratie“.

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Hallo Jacob, schön, dass du dir Zeit nimmst für ein Interview. Der Bürgerrat hatte vor Kurzem seine letzte Sitzung. Was sind die zentralen Ergebnisse?

Jacob Birkenhäger: Grundsätzlich hat sich der Bürgerrat mit Deutschlands Rolle in der Welt anhand von fünf Themenbereichen beschäftigt, den so genannten Reisegruppen:

  • Nachhaltige Entwicklung
  • Wirtschaft und Handel
  • Frieden und Sicherheit
  • Demokratie und Rechtsstaat
  • Europäische Union

Entsprechend vielseitig sind auch die Ergebnisse, die sich immer auf die jeweiligen Themenbereiche beziehen. Eine Forderung, die ich über alle Reisegruppen hinweg wahrnehme: Deutschland solle in der Welt stärker für seine Werte einstehen. Dazu gehören Fairness, Menschenrechte, demokratische Grundwerte, gute Arbeitsbedingungen weltweit sowie Nachhaltigkeit. Dass sich Deutschland global für mehr Nachhaltigkeit und Klimaschutz einsetzen soll, wurde besonders deutlich gefordert. Zum Beispiel empfiehlt der Bürgerrat, in Deutschland ein Nachhaltigkeitsministerium einzuführen und ökologische Standards in den Lieferketten stärker zu kontrollieren. Eine genaue Auswertung der Ergebnisse folgt noch.

Gab es auch strittige Punkte in den Diskussionen?

Jacob Birkenhäger: Ja, die gab es immer wieder. Zum Beispiel bei der Frage, ob wir als Partner gemeinsam mit anderen Ländern handeln oder eigenständig voranschreiten wollen. Hier kam der Bürgerrat zu dem Ergebnis, dass wir zwar grundsätzlich im Verbund mit anderen Ländern eine stärkere Position haben und mehr erreichen können. Wenn wir aber mit unseren Partner:innen bei bestimmten Themen nicht weiterkommen, dann sollten wir auch stärker eigenständig agieren. Das gilt für Fragen der Nachhaltigkeit, Migration oder auch beim Lieferkettengesetz: Hier lautet die Empfehlung, dass Deutschland voranschreiten und ein eigenes Gesetz beschließen und gleichzeitig auf eine europäische Lösung hinarbeiten soll.


Spannend waren auch die Diskussionen um Deutschlands Rolle als Vorbild für andere Länder. Am Ende kamen die Bürgerrät:innen zu dem Ergebnis: Zum Vorbild machen wir uns nicht selbst. Zum Vorbild machen uns die anderen. Nur wenn andere Länder uns als Vorbild sehen und wir gleichzeitig glaubwürdig und konsequent entlang unserer Werte nach innen handeln, können wir diesem Anspruch gerecht werden.

Das klingt nach sehr differenzierten Ergebnissen…

Jacob Birkenhäger: Das stimmt und daran zeigt sich auch, was so ein Prozess leisten kann: Durch gute Abwägungen von verschiedenen Zielen entstehen gemeinsame Lösungen, die schließlich auch einen breiten Konsens finden können. Diese Lösungen sind nicht immer neu, aber sie sind das Ergebnis eines sachlichen Abwägungsprozesses und losgelöst von bestimmten Interessen, rein im Sinne des Allgemeinwohls. Das ist eine große Stärke von Bürgerräten.

Der Bürgerrat wurde komplett digital in zehn Online-Sitzungen durchgeführt. Wie hat das funktioniert?

Jacob Birkenhäger: Erstaunlich gut. Wir haben es geschafft, fast alle 160 Bürger:innen dauerhaft einzubeziehen. Nur sehr wenige haben den Bürgerrat verlassen, oft wegen ihrer schlechten Internetverbindung. Warum die Beteiligung so hoch war? Das liegt sicherlich auch daran, dass wir die Teilnehmenden von Anfang an technisch begleitet und unterstützt haben. Es gab mehrere Technik-Einführungen, Unterstützung durch die Zusendung von Webcams oder Headsets und eine Technik-Hotline, die während der gesamten Veranstaltungen besetzt war. Die Teilnehmenden haben schnell dazugelernt und haben sich auch online ausgiebig beteiligt.

Was sollte nächstes Mal anders gemacht werden? Was waren besondere Herausforderungen?

Jacob Birkenhäger: Grundsätzlich war das Thema einfach sehr komplex und umfassend. Die Einteilung in Reisegruppen hat geholfen, um den vielen Unterthemen gerecht zu werden. Nächstes Mal sollte aber der Austausch unter den Gruppen noch stärker angeregt werden. Eine besondere Herausforderung war auch die Planung des Prozesses. Wo liegt das richtige Maß zwischen einer iterativen Prozessgestaltung, die sich traut, bestimmte Punkte offen zu lassen, und einer klaren Planung vorab?

Was nimmst du für ifok aus diesem Projekt mit? Was haben wir gelernt?

Jacob Birkenhäger: Der Bürgerrat hat bewiesen, dass wir bei ifok sehr gut in der Lage sind, hochkomplexe Prozesse zu steuern – auch zu fachlichen Themen wie Außenpolitik. Die Akteurskonstellation war sehr vielschichtig: Die Fragestellung kam vom Bundestag und unsere Auftraggeber waren mehr Demokratie e.V. und Es geht LOS!. Wir haben mit zwei weiteren Durchführungsinstituten gearbeitet und wurden über den ganzen Prozess hinweg von einem Evaluationsteam begleitet. Dass das am Ende so gut geklappt hat, verdanken wir auch dem großartigen Team von rund 80 Moderator:innen sowie Moderations- und Technikassistenzen, die hier Woche für Woche vollen Einsatz gezeigt haben.

Das öffentliche Interesse am Bürgerrat war sehr groß. Viele Medien haben über den Prozess berichtet. Allgemein scheint das Format Bürgerrat im Trend zu liegen. Wie erklärst du dir das?

Jacob Birkenhäger: Ich denke, das hat mit verschiedenen Entwicklungen zu tun, die unsere Demokratie aktuell vor Herausforderungen stellen. Eine Entwicklung ist die Individualisierung unserer Gesellschaft. Vor allem durch die Digitalisierung leben wir in Filterblasen und tauschen uns kaum noch mit Menschen aus, die andere Ansichten haben als wir. Gleichzeitig wird unsere Gesellschaft immer komplexer, die Ansichten und Interessen immer vielfältiger. Klassische Organisation wie Parteien oder Kirchen können diese Vielfalt heutzutage nicht mehr abbilden. Das führt dazu, dass unser klassisches repräsentatives System vor einer Herausforderung steht: Für den Bundestag zum Beispiel ist es sehr schwierig, all diese Interessen abzubilden.


Ein weiteres Problem, das in den letzten Jahren durch die Digitalisierung, aber auch durch Menschen wie Donald Trump hinzukam, sind Fake News. Man könnte auch sagen, wir leben in einer postfaktischen Gesellschaft. Das heißt, wir streiten nicht mehr darum, wie wir mit einem bestimmten Fakt umgehen, sondern darum, ob dieser Fakt überhaupt existiert. Ein immer größerer Teil der Gesellschaft lässt sich auf diese Fakten nicht mehr ein. Das stellt die Politik vor eine große Herausforderung: Politik ist die Schaffung allgemeinverbindlicher Regeln. Aber wie sollen wir Allgemeinverbindliches schaffen, wenn wir uns nicht mal mehr auf allgemein anerkannte Grundsätze verständigen können? Unter diesen Umständen werden auch keine gemeinsamen Regeln mehr akzeptiert. Ein aktuelles Beispiel: Wenn ich überzeugt bin, dass es Corona nicht gibt, warum soll ich dann eine Maske tragen?

Und wie können Bürgerräte dazu beitragen, diese Probleme zu lösen?

Jacob Birkenhäger: Bürgerräte sind sicherlich nicht DIE EINE Lösung, aber sie können vielfältige Menschen auf eine sehr sachliche, konstruktive Art und Weise ins Gespräch bringen. Bürgerräte sind Formate, die die wachsende Vielfalt der Gesellschaft tatsächlich abbilden können. In Bürgerräten gelingt es, eine gemeinsame Faktenbasis zu schaffen, auf die sich alle verständigen können. Da die Teilnehmenden in keinem Wettstreit um Wählerstimmen zueinanderstehen. Sie handeln im Sinne des Gemeinwohls und nicht in Vertretung bestimmter Interessen. So treffen sie sehr sachorientierte und weitreichende Entscheidungen. Dadurch kann die ein oder andere politische Blockade aufgelöst werden.

Sind Bürgerräte also ein Format für die Zukunft?

Jacob Birkenhäger: Davon gehe ich aus. Weltweit beobachten wir, dass immer mehr Bürgerräte entstehen. Worum es vor allem geht, sind die Mechanismen hinter einem Bürgerrat: wie zum Beispiel die zufallsbasierte Auswahl oder die nicht interessengeleitete Arbeit. Diese Mechanismen können langfristig dazu beitragen, dass unsere Demokratie gestärkt wird und sich weiterentwickelt.

Das sind doch sehr ermutigende Abschlussworte. Dank für deine Zeit, Jacob!

Geschrieben von: Carolin Piras

Ihr Ansprechpartner

Profilbild Jacob Birkenhäger

Jacob Birkenhäger

Business Unit Lead | Deliberation, Open Government, Demokratie

Telefon+49 30 536077-45
E-Mailjacob.birkenhaeger@ifok.de

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1 thought on “Interview: Warum Bürgerräte funktionieren

  1. Buergerrat ein neues Format
    demokratischer Beteiligung von öffentlicher Meinungsvielfalt mit großer Wirkung auf die Entscheidungsträger in Politik
    Medien und Gesellschaft muss die Zukunft noch beantwortet werden.

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